Adenauers Kiste

In den 1980er Jahren bin ich sehr oft in Italien. Ich liebe es, mit meiner damaligen Freundin dorthin zu fahren. Sie fährt gerne Auto und ich genieße unterwegs die wunderschöne vorbeiziehende Landschaft vom Beifahrersitz aus. Toskana, Umbrien, Lombardei. Damals hatte ich den köstlichen Parmesan kennengelernt, den es in den kleinen Lebensmittelläden zu kaufen gab. Ich hatte mir angewöhnt, während der Fahrt immer an einem Stück zu knabbern.

Wir sind am Comer-See und ich brauche Parmesan-Nachschub. Der kleine Ort an der Uferstraße verfügt über einen Alimentari (Lebensmittelladen). Hier könnte ich Glück haben. Als ich dort eintrete ist der Laden leer und es riecht etwas muffig in den alten Gemäuern. Vielleicht liegt es aber auch am Käse. Den gibt es jedenfalls hier. Eine Frau mittleren Alters tritt hinter die Ladentheke. Typ italienische Mama. Nachdem sie mir ein schönes Stück Parmesan verkauft hat, fragt sie: „Sei tedesco?“ (Bist du Deutscher?) Ja, bin ich. Sie geht nach hinten, wo nur noch wenig Licht hinkommt und winkt mich heran. „Komm mal mit!“ Ich frage mich zwar, was jetzt wohl kommen wird, aber ich folge ihr.

Sie öffnet eine Tür und zeigt mir ihren Lagerraum. Es ist dunkel und kühl. Jede Menge Getränkekisten, aber auch Gerümpel. An der Wand, zwischen Kisten voller Äpfel, Zwiebeln und Zucchini, dient eine umgedrehte Kiste als Hocker. Sie zeigt auf diese Kiste und sagt: „Hier hat er immer gesessen. Immer wenn er da war, kam er zu mir und hat sich mir anvertraut.“ Ich ahne, wen sie meint. Das Dorf hier heißt schließlich Cadenabbia. Sie bestätigt es. „Konrad Adenauer. Hier fand er seine Ruhe. Er war ein sehr netter Mensch!“, seufzt sie und dabei schaut sie versonnen auf die Kiste. Man sieht ihr noch an, dass sie damals eine sehr hübsche junge Frau gewesen sein muss. Ich lass die Szene noch ein wenig auf mich wirken dann bedanke ich mich bei ihr und gehe etwas irritiert zurück zum Auto.

Während der nächsten halben Stunde knabbere ich stumm an meinem Parmesan.

  

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